06.09.2025 Bildpräsentation:

"Der lange Becker von Eschbach" oder "Der Eschbacher Strumpfsticker"

Der Verein Eschbacher Ortsgeschichte lud am Samstag, 06.09.2025 zu einer Bildpräsentation in das Eschbacher Bürgerhaus ein. Gezeigt wurden alte Bildaufnahmen von den Eschbacher Klippenspielen. Aus dieser Reihe von 10 Theaterstücken wurde „Der Eschbacher Strumpfstricker“ oder auch bekannt als „Der lange Becker von Eschbach“ vorgeführt.

Um 15:00 Uhr ging es los. 50 Besucher fanden sich im „Kleinen Saal“ bei Kaffee und Kuchen ein und wurden durch den 1. Vorsitzende Reiner Holl begrüßt. Dann übernahm Christa Klieber das Mikrofon und las dem Publikum die wahre Geschichte des „Langen Becker von Eschbach“ vor. Eine 8-seitige Abschrift aus dem originalen Dokument von Reinhard Ruß verfasste Ronald Löw neu. Nach ca. 40 Minuten Lesezeit wurde eine kleine Pause eingelegt, um dann mit der Bildprojektion zu starten.

Die folgenden Aufnahmen wurden mit sehr großem Zeitaufwand durch Ronny Löw, Gerd Becker und Wolfgang Ruß hergestellt. Die alten Fotografien von 1947 mussten sortiert, gescannt, bearbeitet und für eine Projektion optimiert werden. Alle Bilder stammen von Gerd Becker und Margot Becker.

Anmerkung:
Die Bilder sind nummeriert, die Bildnummern werden nach vergrößern des Bildes unten angezeigt. Sollte der eine oder andere Betrachter Personen erkennen, wären die Archivare Ronny Löw und Wolfgang Ruß erfreut, die Namen zu bekommen. Vielen Dank!

Ein originaler Flyer für die Bauernspiele 1947 und eine Namensliste der Spielleute

Personen und Darsteller:

Der Lange Strumpfstricker –                       Reinhard Ruß

Jeanette, seine Frau –                                   Elfriede Wirth

Antonche, ihr Sohn –                                    Theo Becker / Gerhard Schmidt

Charlotte, ihre Tochter –                               Gisela Becker

Annegret, Bäuerin –                                       Ilse Hofmann

Scholtes von Eschbach –                               Edwin Becker

Philipp, Bauer –                                              Helmut Becker

Kunrod, alter Bauer – Rudolf Wick

Hannes, der Kuhhirte –                                 Paul Störkel

Kloos, der Schäfer –                                       Ernst Hofmann

Lisbeth, Bäuerin – Herta Schmidt

Kätt, Hebamme von Eschbach –                  Waltraud Becker

Evchen, Wirtin vom Eschbacher Hof –       Emmi Ruß

Lochmüller – Walter Brand

Rita, seine Tochter –                                       Hilde Prößer

Sophie, Schankmädchen –                            Anneliese Müller

Usinger Männchen –                                      Kurt Ruß

Hirschmann, Händler –                                 Reinhold Enders

Fürstin Amalie Charlotte –                            Toni Schmidt

Prinz Karl – Hermann Schmidt

Prinz Wilhelm –                                               Theo Körner

Soldatenkönig –                                               Leo Paur

  1. Stankow, Höfling – Werner Schmidt
  2. Ränkewitz, Höfling – Bruno Paulus
  3. Strammzinsky, Höfling – Reinhold Enders

Korporal, Ausbilder der Langen Kerls –      Alfred Anders

Hauptmann der Werber –                              Ewald Hofmann

Korporal der Werber –                                    Werner Schmidt

Wächter des Usinger Schlosses –                  Gerhard Schmidt

Kutscher der Werber –                                     Gerhard Schuhmacher

2 Diener der Fürstin –                                      Edgar Schäfer / Hans Schäfer

2 Diener des Königs –                                       Edgar Hofmann / Helmut Becker

Das Dorfvolk, dargestellt von der Eschbacher Jugend

1725 „Der Lange Becker von Eschbach“ oder „Der Eschbacher Strumpfstricker“
(Neue kurze Zusammenfassung Ronald Löw, 2016)

Eine wahre Geschichte, die sich im 17. Jahrhundert ereignete. (gleichnamiger Roman von Maria Melchers von 1941)

Die Geschichte „Der Lange Becker von Eschbach (Der Lange Strumpfstricker)“ haben die Eschbacher Dorfbewohner 1947 als eines der Bauernspiele an den Eschbacher Klippen aufgeführt.

Urkundlich belegte Daten aus dem Kirchenbuch von Eschbach:
Herr Johann Anton Becker, geboren 26.09.1700 in Eschbach

Frau Anna Katharina Körner, geboren 03.12.1705 in Eschbach
Eheschließung am 14.11.1724

Kinder:
1. Sohn Johann Anton, geboren 12.08.1726 in Eschbach, blieb bei der Tante auf dem
    Junkerhof (hatte 6 Kinder), gestorben 1767 in Eschbach.
2. Tochter Maria Katharina, geboren am 09.01.1736 (wahrscheinlich in Potsdam)
    kehrte in die Heimat ihrer Eltern zurück. Heiratete 1761 und starb 1814 in Usingen.

Die Geschichte von Johann Anton Becker aus Eschbach

Es war im Jahr 1725, da lebte in Eschbach ein junger Mann namens Johann Anton Becker mit seiner Frau Anna Katharina. Beide waren glücklich verheiratet. Johann Anton war von Beruf Strumpfwirker Meister (Strumpfstricker) und mit seinen 25 Jahren schon ein angesehener Mann im Ort. Um seine gewebten Strümpfe und Gamaschen verkaufen zu können, wanderte er zweimal jährlich in die große Stadt Frankfurt zur Messe. Zur gleichen Zeit regierte der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I auch Soldatenkönig genannt. Er war bekannt für die Jagd nach lang gewachsenen jungen Männern für sein Königregiment in Potsdam. Dazu schickte er Werber ins ganze Land, um Männer über 1,88 m zu finden. Nicht immer mit legalen Mitteln brachten die Werber die „Langen Kerle“ nach Potsdam.

So auch Johann Anton Becker aus Eschbach.

Es war wieder soweit. An einem schönen Septemberabend packte er seine gewebten Waren in seinen Korb um am nächsten Morgen wieder in die große Stadt zu wandern. Die Reise konnte für ihn wieder gefährlich werden, denn oft schon musste er sich durch Geschicklichkeit aus den Fängen der Werber des Soldatenkönigs befreien.

Sie standen auf der Anhöhe und seine Frau Anna Katharina, die ihr erstes Kind bekam, sah ihm mit großen, dunklen Augen ins Gesicht und sprach: „Dort wanderst du morgen, Johann Anton!“ „Ja, der Himmel lobt, es gibt einen guten Reisetag.“

Die Dämmerung schattete bereits in den Eschbacher Gassen, als sie von des Dorfes Höhe zu Tal gingen. Im Dorf herrschte noch eifrige Tätigkeit, als sie die Gasse kreuzend vor dem Kirchhof angelangt waren und Johann Anton die Pforte zum Totenhof öffnete. Schweigend gingen sie zwischen den engen Pfädchen der Gräber zur Ruhestätte seiner Mutter. Dieser Abschiedsgang zum Gottesacker unterließ Johann Anton vor keiner Reise. Anna Katharina bat ihren Mann nicht zu gehen. „Man wird Dich auch einfangen und fortschleppen!“

Vom Laurentiusturm der Usinger Stadtkirche sangen die Glocken ihr Morgenlied, als Johann Anton den Fußpfad durch Gärten, Gebüsch und Hecken zur Usa nahm. Aus herbstlich reiner Klarheit stiegen die Mauern Wehrheims auf, blickten Kloster Thron und die Lochmühle aus dem Tale. Stets war ihm gegenwärtig, dass ihm ein gutes Messer im Gürtel sitze und das der derbe Knotenstock nicht bloß Wanderstab, sondern gegebenenfalls verlässliche Waffe sei. So ging er fröhlich über die Taunusberge, dass er vor Abend dem trutzigen Frankfurt gegenüberstand.

Um Unterkunft brauchte Johann Anton sich nicht zu sorgen. Seit er vor sieben Jahren zum ersten Mal den Wanderstab dem Main zu gelenkt, fand er in der Tagesgaststätte „Silbernen Schlüssel“ gütige Aufnahme. Der Besitzer Michael Lienhardt und seine Frau hatten ihm ihr Haus geöffnet und ihm wahrhaft elterliche Fürsorge zugewandt.

Er öffnete die Tür der Trinkstube und fuhr erschrocken zurück. Ein Soldatenhauptmann trat ihm nahe. „Heda du! Ist Raum genug bei uns. Auch für dich – komm Bruderherz, wir sitzen beisammen!“

Johann Anton ging aber unbeirrt an einen Seitentisch, der einem Einzelnen Gastrecht bot. „Schönen guten Abend, Herr Aktuarius“ (Gerichtsschreiber). „Becker – Ihr seid im Lande? Endlich! Endlich!“ Bei jedem Ausruf schüttelte er dem Strumpfwirker in ehrlicher Freude die Hand.  „Setzt Euch zu mir!“

Am nächsten Morgen zog Johann Anton durch die Gassen der Stadt. In den Laubenartigen Hallenunterbauten der Stadthäuser zeigen die reichsten, vornehmsten Handelsherren in Glas verschlossenen Tischkästen ihre Kostbarkeiten, während die bescheidenen Kaufleute auf dem Römerberg und seine Nebengassen eine Zeltstadt aufgeschlagen haben und in langen Budenreihen ihre Waren feilbieten.

Johann Anton Becker zählte weder zu den einen noch zu den anderen. Sein zusammenklappbarer Tischkasten ließ sich leicht an guten Stellen einfügen, aber seine Einnahmen blieben gering, kaum das Zehrgeld deckten sie. Lag es daran, dass von England herüber ein neues Verfahren aufgetaucht war, nahtlose, rundgewirkte Strümpfe zu weben? War das der Grund, dass das neulustige Volk dem Fremden zulief? Schandbar, wenn sich die Schuld bei mir fände, wie sollte ich vor Anna Katharina stehen?

Die Messezeit hatte sich noch nicht geteilt, da geschah es ihm, was ihm in seiner siebenjährigen Erfahrung noch nicht begegnete. Er konnte seinen, nicht unbeträchtlichen Restposten zu solch überraschend günstigen Bedingungen an einen einzigen Käufer abtreten, dass ihm schier schwindelte vor Glück. Er hatte Mühe, die harten Gulden Stücke, die ihm in die Hand fielen, ordnungsgemäß nachzuzählen.

„Anna Katharina! – Anna Katharina! – was wird sie Augen machen, wenn ich morgen Abend vor ihr stehe!“

Knapp vier Stunden alt war der neue Tag, der im „Silbernen Schlüssel“ behutsam leisem Wirken begegnete. Der kräftige Duft der Braunmehlsuppe, die als Einlage geröstete Speckwürfel und Schalotten ahnen ließ, durchzog lockend das Gasthaus. Ein kurzes, bestimmtes Pochen an der Eingangstür! – So früh kann doch keiner zu uns gelangen, sagte fragend die Wirtin und legte den Riegel zurück. „Schön guten Morgen beisammen. So ist’s recht! Ihr seid gestiefelt und gespornt. Wie weit seid Ihr? Kann’s losgehen?“ Fragte der alte Freund Aktuarius. – „Sobald es tagt“.

Grau und trüb hatte der Tag sich angelassen, jede Sicht auf mehr als zwanzig Fuß im Umkreis mit undurchdringlichem Nebel verhängend. „Als wollte der Himmel nur eigens die Heimkehr sicher“ dachte Johann Anton wohlgemut und lächelte hinterher über die Anmaßung des Weltenschöpfers Allgewalt mit kleinem Menschen Schicksal zu verbinden.
Es war in der zehnten Morgenstunde. Der größte Teil des Weges lag hinter ihm, ehe er die Feld- und Heckenpfade verlassend, in den unsicheren Wald einbog, fand er es an der Zeit, Rast zu halten. Während er sich nach geeignetem Sitz umtat, riss das graue Gewölk. Eine freundlich scheinende Sonne strahlte zur Erde nieder und – blitzte warnend in den Spiegelkokarden hoher Soldatenmützen. Der gleiche Soldatenhauptmann mit Mannen, dem Johann Anton in der Frankfurter Trinkstube nahetrat.
Er rast waldwärts, was seine Lungen und die langen Beine hergeben wollten. Wie eine Meute hetzender Hunde jagten sie ihn. Er rennt, wie es nur ein Mensch vermag, der um sein Leben läuft.
Die Weghälfte ist erreicht, da haben ihn die Verfolger fast eingeholt. Der Pfad führt in die Wiese – Moor – Trägt das Moor? Ist es ausgetrocknet? Die Häscher kommen näher. Alle Vorsicht vergessen, läuft Johann Anton über das Moor und seine Häscher folgen. Der letzte Ansprung zum vermeidlichen Waldboden hat ihn bis über die Waden einsinken lassen. Alte knorrige Weidenzweige verhalfen ihm Stück für Stück aus dem saugenden Nass. Die furchtbaren Schreie der Soldaten bleiben hinter ihm, in der schmalen Wiesenschneise des Tannenwaldes.

„Gerettet – Herrgott – Gerettet!“ – Anna Katharina!

Behutsam schlich er sich ans Haus, ihr als Gruß das Lied zu pfeifen, das keiner im Ort sonst vertraut, dass er in einem alten Buch gefunden:

Mein Schatz, ich weiß eine Königin,
die trägt nicht Mantel noch Kron‘,
doch ist ihr errichtet in meinem Sinn,
auf ewig ein güldener Thron.

Die Holde hat Schmuck nicht noch Edelstein,
es fehlt ihr der Diener Troß,
ich aber will ihr Knechter sein,
mein Herz, es sei ihr Schloß.

„Johann Anton! – ? Du bist wieder daheim -? O, – wie – gut!“

Da meldet sich sein neugeborener Sohn! „Ein Bub? Ist’s wirklich war?“

Wortlos trat er zur Wiege, holte das zappelnde, schreiende Bündel heraus und trug den Kleinen mit erhobener Rechten durch die Luft. Johann Anton dachte kaum noch an die Fährnisse der Wanderschaft. Er schwang die kleinen Strampelbeine fast die Stubendecke berührten.

Johann Anton gedieh die Arbeit wie nie zuvor. Ein Fünfguldenstück ums andere trug der Botenphilipp für ihn in die Residenz-Usingen und setzte es in Wolle um. Früher hatte der Strumpfwirker Meister diese Einkäufe selbst besorgt. Im heutigen Winter schlief die Wandersehnsucht.

Im Junkerhof herrschte die um die Frühlingszeit gewohnte Nachmittagsstille. Theres, Johann Antons Schwester hatte ihren Fensterplatz in der großen Stube inne, von wo man den Blick in die Zitzergasse genoss und, so man sich ein wenig vorneigte, auch Schloss und Rathaus übersah.
„Ich hätte längst bei dir hereinschauen müssen“, grüßte er Schuldbewusst, während er Hut und Stock auf den Tisch legte und einen zweiten Stuhl zu seiner Schwester trug.
„Den Hirschler hast du nicht gesprochen, Theres?“ „Ich hätte gern mit dem Händler geredet!“ – „wärst du gestern gekommen! Da war er hier, aber er meinte du hättest ihm zu oft einen Korb gegeben. Ohne Auftrag poche er nie wieder bei dir an. Wenn du ernstlich etwas von ihm wollest, Osterdienstag nähme er in der Lochmühle Quartier.“ Ihm sollte es recht sein, wenn du mit einem Angebot kämest. „Und du tust es, gelt Johann Anton, du tust es?“ „Dir zu Gefallen soll es geschehen, Theres“.

In grüner Talmulde des Tannenwaldes eingebettet, lag die Lochmühle. Auf dem Hofe standen die rasthaltenden Fuhrwerke bunt und ohne Ordnung durcheinander. Die Pferdegrippen hingen schief und morsch. Doch was hatte das ihn zu kümmern! Für ihn war nur wichtig, dass er seine Ware anständig an den Mann brachte.
Entschlossen betrat er die verräucherte Wirtsstube. Von einem der mächtigen Eichentische schallte es ihm entgegen.
„Sieh da, der Lange Becker, der Eschbacher! Das ist recht, dass ihr Euch endlich besonnen habt. Rück an, ihr setzt Euch unter gute, alte Stammkundschaft!“

Bauern, Händler, Viehtreiber und Kleinkaufleute bevölkerten die Stube. „Lasts Euch schmecken“. Johann Anton fuhr herum. Die Schenkmagd hatte ihm unaufgefordert einen hohen Krug frisch schäumenden Gerstenbieres vorgestellt. So lang der Hirschler rechnet, geht der Umtrunk auf seine Kosten. Umso freudiger überraschte ihn das Angebot, das später an ihn erging. An keinem Stück seiner Ware war eine Ausstellung zu machen. Dankend nahm Johann Anton die hingezählten Münzen auf. Dabei eilten ihm die Gedanken schon heim – heim – Reichtum, Glück, Geld, Stolz und Liebe. Viel fehlte nicht und er hätte sich in der Tat zur sofortigen Heimwanderung verlocken lassen – Hirschler lachte ihn aus.

Das matte Tagesgrauen fand ihn im Wirtszimmer. Er war nicht der Einzige, der durchfroren und übernächtigt eine Morgensuppe wünschte.
„Suppe?“ höhnte die Schenkmagd mürrisch. „Brot mögt ihr haben und Schnaps und Wein – allenfalls Kaffee.“
Johann Anton schaute sie an. „Kaffee“ beschrieb er kurz. – Abscheu und Widerwillen ließen ihn die bittere, braune Brühe überschnell hinter die Kehle jagen. „Pfui, wie das schmeckt!“
In der Hoftüre traf er mit Hirschler zusammen.

„Hallo, Becker, Ihr wollt doch nicht schon fort?“
„Worauf soll ich warten?“
„Auf Weggenossen, denk ich.“
„Bin das Alleinwandern gewöhnt.“
„ Und Ihr fürchtet Euch nicht?“
Er lachte – „fürchten, wenn es heimgeht?!“

Fröhlich winkend verließ er die Lochmühle. „Prachtkerl, der Lange Becker,“ nickte der Großkäufer wohlwollend hinter ihm drein.

Die Talmulde der Lochmühle lag hinter Johann Anton. Felder und Wiesen hatte er durchquert. Es war wohl das hastig genossene Gebräu, gegen das sein Körper sich wehrte. In den Därmen war ein Brennen und Ziehen, das sich schnell zu reißenden Schmerzen steigerte.
„Herrgott, himmlischer Vater, wirst mich keiner Krankheit anheimfallen lassen, hier in der Einsamkeit!“

Schwere stampfende Füße raschelten durch das vorjährige Laub, wuchten Zielsicher dem Brombeerstrauch zu, neben dem Johann Anton Becker niedergesunken.
„Weiß der Deibel – hast recht. Wenn’s kein Tier ist.“ „Es jault wie’n Hund, aber es ist der Lange.“ Da liegt er am Boden. „Ha, Kerl, haben wir dich endlich, du Lump, du vermaledeiter! Na, wie geht’s uns denn? Haben wir die Höll im Bauch? Das ist gut.“ Der schwere Soldatenschuh tritt unbesehen, wohin er trifft. „Lass, der hat genug.“
„Pass lieber auf, dass er den Rock anhat, e’h er zu sich kommt.“ „Also, marsch los. Eins – zwei – drei – hoch!“ „Donnerlitsch, ist das Biest schwer!“ „Denk‘ ans schwere Geld, die harten Reichstaler die wir verdienen wollen, in Berlin, beim Preußenkönig!“

Es war am Vorabend des Pfingstfestes. Innen und außen trug das Beckersche Fachwerkhäuschen den Maienschmuck. Das eintönige Klipp-Klapp aus Beckers Haus wirkte befremdend in diesem Frieden. Und doch war da eine, der das Klappern das Herz bewegte wie tröstliche Musik. In frohem Ungestüm stieß Theres die Tür auf zu ihres Bruders Wohn- und Arbeitsraum. Anna Katharinas Faden riss, so fuhr sie vom Webstuhl hoch. „Eben, wie die Türe ging, glaubte ich, er wär’s. Wenn es zu machen war, hätte es ihm zum Fest heimgetrieben.“

Der strahlend blaue Festtagshimmel, umglitzerd vom hellsten Gold der Pfingstsonne, schenkte dem hohen Taunus Frühsommertage. Lachend und singend durch zogen die Eschbacher Buben die Gassen. Von Haus zu Haus sammelten sie Gaben ein. Von alters her ein verbrieftes Recht.
Auch bei Anna Katharina pochte das „Laubmännchen“ an. Der junge Bursche war um und um mit Grün umwickelt. Nur das lachende Gesicht schaute hervor. Anna Katharina händigte ein ansehnlichen Teil Speck und Eier an die Sammler aus.

Des Abends trat ein Fremder zu ihr in die Webstube. „Verzeiht, ich bin der Großkäufer Hirschler. Ich komme, mit dem Strumpfwirker Becker zu verhandeln. Ihr, Ihr – seid -?“ „– sein Weib“, vollendete Anna Katharina. „Ihr habt einen Auftrag? So Ihr ihn mir ausrichten könnt -?“ Mein Mann ist gen Frankfurt, zur Frühjahrsmesse.“
Verständnislos sah der Händler das junge Weib an. „Wie meint Ihr?“ „Mein Mann ist draußen – auf Wanderung. Seit Osterdienstag.“ Schwerfällig ließ Hirschler sich auf dem Schemel am Webstuhl nieder. „Osterdienstag? – Freilich, ja, den nächsten Morgen ist er nach Hause.“ Dem Manne ward die Kehle eng vor dem wartlosen Jammer des bleichen Weibes. „Was soll ich Euch antworten, Frau? Ich weiß nichts, kann Euch nur versprechen, Nachforschungen zu halten nach Beckers Verbleib.“

An einem trüben Oktobertag stand der Botenpfilipp pochen vor Anna Katharinas Tür und sprach: „Hab‘ Euch was mitgebracht. Was Gutes, denk ich.“ Einen fünffachen Siegelbrief nahm sie in Empfang. Wie im Traum starrte sie darauf nieder. Auf und ab tanzten die Buchstaben vor ihr auf dem Pergament und standen doch so fest und gerade, wie nur eine einzige Hand auf weiter Welt sie zu fügen vermochte.

 – Johann Anton – „Er lebt! O Gott, er lebt! Und schreibt!“

Mein herzallerliebstes Weib, meine treue Anna Katharina. Gott zum Gruß zuvor, und alsdann die Nachricht, dass ich gesund und munter bin und dergleichen von Dir erhoffe. Ich weiß, dass Du voller Kummer bist, um diese Trennung. Wir wollen es als Prüfung nehmen, die ein baldiges Ende finden wird. Doch ich darf den Dingen nicht vorausgreifen.
Wir schreiben heute den zwölften Sonntag nach Trinitatis. Das will besagen, dass fast eine Jahreshälfte vorbeigegangen, seit ich von Dir und unserem Buben Abschied nahm. Wenn ich Dir nun mitteile, dass ich inzwischen dem Regiment der Leibgardisten des Preußenkönigs eingereiht ward, darfst Du darob nicht erschrecken.
Es ist nicht mit guten Dingen hergegangen. Durch vergifteten Kaffee hat man mich bezwungen und viele Tage bin ich auf der Soldaten Strohwagen durch das Land gefahren, ohne eines Gliedes mächtig zu sein, als der Hände. Mit Gewalt und Drohung hat man mir die Unterschrift zur Urkunde abgerungen, die meine Zustimmung zum Soldatenberuf dartun musste. Gut wäre nur da in mancher Stunde mein Liebwert Weib vonnöten!
Anna Katharina, könntest Du Dich entschließen, mir zu folgen? Acht Jahre habe ich mich dem königlichen Dienst verschrieben, Dir aber meine Treue Anna Katharina, empfehle ich aus ganzem Herzen dem Schutze und dem Beistand Gottes, in allem was Du tun und lassen mögest.

In Treuen Dein – Johann Anton

Der Entschluss stand fest, Johann Anton nach Potsdam zu folgen. Margret und Franz, welche Anna Katharina besuchten, verbissen aufquellende Tränen. „Wie ist’s möglich?“ murmelte Margret. Anna Katharina atmete schwer. „Der Schulte hat mein Gesuch um die nötigen Reisepapiere bereits in Händen, er gibt heute Abend die Unterschrift, morgen bringe ich alles nach Usingen!“
„Johann Anton sähe den Bub gerne bei seiner Schwester Theres im Junkerhof. Ich gehe morgen anfragen. Jetzt ist noch ein anderes, was mich bewegt!“

Ich lasse nicht nur ein Kind, ich lasse auch ein herrenloses Anwesen zurück. Es ist kein reicher Besitz, doch auch von ihm gilt:

Wo der Mensch sein Dach verlässt
setzen sich die Mäuse und Ratten fest!

Nun, ich habe mir gedacht, es könnte mir und Euch zweien geholfen sein, dürfte ich Euch bitten, unser Haus und alles, was drin ist, als das eure zu betrachten. Johann Anton und ich wüssten in der Fremde, dass uns unser Heim erhalten bleibt und ihr beide hättet in den acht Jahren Gelegenheit, auf euer eigen zu sparen.

Am 19. Tage des Oktobers, so man den Ferdinandentag heißt, bin ich mit Sonnenaufgang aus unserem Hause in Eschbach aufgebrochen. Die Nachbarn Steinmann und Diefenbach haben auf ihren Blashörnern laute Musik gemacht. Mir aber ist gewesen, dass durch alles mein Kind weine, weshalb ich nochmals ins Haus zurück bin, es zu schweigen. Doch der Bub schlief. Ist auch nicht aufgewacht, wie ich ihn zum aller letzten Male aufgenommen und ans Herz gedrückt. Für mich war es ein Wehtag voll schlimmer Schmerzen, als da ich ihn geboren.

Zur ersten Nachtherberge hatte ich eine Empfehlung in ein Pfarrhaus. Es war eine Vornehme, begüterte Pfarre, die mich aufgenommen. Der Herr führte eigen Ross und Wagen und ist nur keine unliebe Überraschung gewesen, dass am nächsten Morgen das Fuhrwerk für mich eingespannt war, mich eine ganze Tagesfahrt weiter ins Land hinein zu bringen. Es blieb nicht so!

Von jenem Tage an war ich alleine auf mich angewiesen. Regen und Sturm und die üble Unterkunft in den herbergen will ich dabei gar nicht in Anrechnung bringen. Weit schlimmer ist die Missachtung der Menschen, die vermeinen, ein alleinreisendes Frauenzimmer gleichstellen zu können mit Landstreicher und Tagedieben. War mir ein harter Umgang, so ich um Quartier ansprechen musste.

Es war an jenem Abend, da man die Geburt unseres Herrn und Heilands feierte. Ich hatte es nicht in Acht genommen, dass die Weihnacht so nah. Müde und Elend hatte ich mich von Ort zu Ort geschleppt und geriet nun in der großen Stadt Halle in den Strom festfroher Menschen, die zum Gotteshaus wollten.
Ist nicht zu sagen, was alles einstürmt auf einen einsamen Menschen, der Kind und Heimat hat verlassen müssen und mühsam eine Fremde entgegen irrt, die so undenkbar fern. So verstoßen und jammervoll kam ich mir vor, dass mir unaufhaltsam die Tränen rollten, als die Gemeinde fromm und glücklich zu singen anhob:

Ist ein Kindlein geboren,
hat den Frieden uns gebracht.
ach, wie waren all verloren,
irrten in der dunklen Nacht.

Beim Ausgang, ich hatte mich zu den letzten gehalten, weil mir graute vor der eisigen Finsternis und der Ungewissheit, wie und wo ich Herberge finden sollte.

Berlin und Potsdam standen im Trauerschmuck. Friedrich Wilhelm war verstorben, der arbeitsame, strenge Preußenkönig. Die Straßen wimmelten von Fremden, die aus aller Himmelsrichtungen herbeigeeilt, die Ereignisse des Trauertages mitzuerleben. Die Wachposten vor den Toren hatten verdoppelt werden müssen, den Tempelstrom zu regeln. Die Stadtpatrouillen waren ums fünffache verstärkt. Der Soldat hatte wahrlich kein leichtes Leben.

Der Fahnenträger Johann Anton Becker hatte die Arme auf der Tischplatte verschränkt und den Kopf in den Ellbogenwinkel vergraben. Beiden kargen Ruhepausen die der Dienst ihm ließ, bot ihm diese Art des Ruhens die schnellste Möglichkeit zur Entspannung. Er rührte sich nicht, als ein Wagen vorbeirollte, umdrehte, hielt. Was galt es ihm, dass draußen Stimmen schwirrten und Geräusche sich gar in seinem Hauseingang fortpflanzten. Als seine Stubentür sich auftat fuhr er ärgerlich hoch. „Verruchter Quälgeist! Ist Er schon wieder da?“
Ein silberhelles Lachen war die Antwort. Er stand und starrte, als wisse er nicht was er sehe. Dann aber hoben sich seine Arme und breiteten sich aus.

„Anna Katharina! Herrgott! Meine Anna Katharina!“

Sie lagen einander in den Armen und lachten und schluchzten in übergroßer Seligkeit. Zwei lange Jahre ist’s her, dass sie sich trennten.
Die Zeit verstrich und Anna Katharina ward wieder guter Hoffnung mit einem Töchterchen.

Leuchtend ging der regengraue Tag zur Neige. Keiner ahnte, dass der folgende helle Sonntag tief dunkle Schatten werfen würde.
Früh morgens verließ Johann Anton Becker behutsam leisen Schrittes das Haus. Eine große Reiterübung stand bevor. So hatte es geschehen können, dass er Anna Katharina schmerzverhaltene Stimme, die ihm den Morgengruß geboten, für schlaftrunkenes Flüstern genommen, das er liebevoll aber eilig mit einem:
                                                                                        „Schlafe weiter mein Schatz“

beruhigt, während Sie die ungewöhnlich heftig einsetzenden Nöte ihres Weibtunes kaum hatte verbergen können und sich in stummer Qual gewunden, bis der Mann sorglos von dannen geritten.

Johann Anton kam spät abends heim. Walburg, die Magd der Beckers stand am Gartentor. „Geht schnell ins Haus und tut doch behutsam, Herr. Es steht nicht gut um die Frau!“ „Burga! Was ist denn?“ „Eben habe ich den Medikus rufen müssen. Die Amme hat es verlangt.“
Aus dem Oberstock stiegen die Amme und der Medikus hernieder. Die Amme sah den verstaubten, verschwitzten Soldaten, der hastig den Flur betrat und fragte: „Ich darf wohl den Hausherrn vermuten?“ Johann Anton nickte kurz. „Es wird nicht mehr!“ so der Medikus.

Der Morgen graute. Bleifarbendes Licht fiel durch die kleinscheibigen Fenster. Die Amme trat in den Raum, ein weißes Bündel im Arm und sprach:

„Der Herr nimmt nicht nur, Er gibt auch. Ich darf Euch eine Tochter bringen.“ „Mein Weib, was ist mit meinem Weib -?“

 „Wir sind nicht auf Erden, glücklich zu sein; wir sind geboren, unsere Pflicht zu erfüllen bis zuletzt.“
Diese Worte hatte der Soldatenpfarrer der Grabrede zu Grunde gelegt, die er dem fremden jungen Weibe gehalten, das er als des Leutnants Becker Ehefrau auf dem Potsdamer Friedhof zur letzten Ruhe gebettet.

******

Anna Katharina starb bei der Geburt. Die Tochter Maria Katharina ging mit 25 Jahren in die Heimat ihrer Eltern, heiratete 1761 und verstarb 1814 in Usingen.

Über den Sohn Johann Anton gibt es keine Überlieferung.